Bericht über das Leben mit einer Tumorerkrankung des Mund-, Kiefer-, Gesichtsbereiches

„Die Anderen wissen nicht, mit uns umzugehen“

Sie spülen ihren Mund mit Olivenöl aus, bestellen zum Essen im Restaurant ein Bier und ein Glas Milch und essen Kartoffeln nur mit Joghurt. Nicht, weil sie exotische Essgewohnheiten haben, sondern weil sie krank sind. Manfred, Wolfgang und Ursula haben Krebs. Ursula fehlt die halbe Zunge, Wolfgang hatte einen Tumor auf der Mandelschleimhaut, Manfred ein Zungengrund-karzinom.

Die drei sind Mitglieder der Selbsthilfegruppe für Menschen mit Tumoren des Hals-, Mund-, Kiefer -, Gesichtsbereich Ennepe-Ruhr/Hagen. Eine der wenigen Selbsthilfegruppen in Nordrhein-Westfalen. Ins Leben gerufen von der KISS, der Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe EN-Süd und der Krebsberatungsstelle des Diakonischen Werkes Ennepe-Ruhr/Hagen. Alle drei sind keine Kettenraucher oder Alkoholiker. Denn dieser Makel haftet ihnen an: Menschen mit einer Krebserkrankung im Hals-, Nasen-, Ohren und Kiefer- und Gesichtsbereich rauchen oder trinken.

Keine Raucher, keine Trinker

Die Menschen mit dieser Krebserkrankung gehen nicht in die Öffentlichkeit. Ziehen sich zurück, weil sie nicht mehr deutlich sprechen können, nur mühsam essen können – ihre Krebserkrankung im Restaurant, beim Metzger, im Freundeskreis nicht verstecken können.

„Es bleibt uns die Spucke weg. Oder es verschlägt uns die Sprache“. Wolfgang bringt es auf den Punkt. Er kann sprechen, wieder sprechen. „Durch intensives Training mit meiner Logopädin höre ich mich fast so an wie vor der Operation.“  Fast jeder hier trainiert mit einer Logopädin. „Wissen Sie wie das ist, wenn man erst wieder lernen muss zu schlucken. Etwas lernen muss, was ein Reflex war, selbstverständlich war?“

„Schlucken mühsam wieder lernen“

Der 75jährige muss dazu noch mit einer Tatsache klarkommen, die jeden hier betrifft: Er hat keinen Speichel mehr. Eine Nebenwirkung der Strahlentherapie. Nicht irgendeine, sondern die, die allen hier am meisten zu schaffen macht. Eine Nebenwirkung, durch die das Essen zur Qual werden kann, weil der Mund zu trocken ist. „Reis bleibt in der Mundhöhle kleben, Fleisch geht fast gar nicht und Kartoffeln eben nur mit Joghurt“, erzählt Manfred. Wolfgang hilft sich mit einem Glas Milch. „Schlückchenweise zum Essen als Speichelersatz. Dann rutscht alles besser.“  Erfahrungswerte – nicht von Ärzten mit auf den Weg gegeben, sondern selbst gemacht.

Waltraud lebt seit Tagen nur von flüssiger Astronautennahrung. Drei Tage war sie im Urlaub, an der Ostsee. Endlich einmal raus. Die Frau, die einen Tumor am Ohr hatte, kam mit der Hotelküche nicht klar. „Gäbe es die Astronautennahrung nicht, müsste ich oft hungern“.  Und dann holt Waltraud Lutschtabletten aus ihrer Handtasche. Die hat man ihr in den Reha empfohlen. Ein Mittel, das den Speichelfluss anregt. Ihr Hausarzt kannte das Mittel nicht. „Der kann sich gar nicht vorstellen, was es heißt, ohne Speichel leben zu müssen“.

Alle hier wollen wissen, wie die Tabletten heißen. Nur Ursula, die Frau, der die halbe Zunge fehlt, ist vorsichtig. Ursulas Mundhöhle ist immer entzündet:  „Saures, Süsses, Salziges geht gar nicht“. Was geht überhaupt? „Wenig“.

Ohne Speichel leben

Man muss sich konzentrieren, wenn man Ursula verstehen will. Auch hier hat eine Logopädin viel erreicht. Vor allem hat sie ihr die Scheu genommen, überhaupt zu sprechen – mit einer halben Zunge. Ihre Tochter hatte ihr, die ihren Lebensmut nach der Operation verloren hatte, gesagt: „Erschieß dich oder häng dich auf“. „Da habe ich angefangen zu kämpfen“, erzählt die 68jährige, deren größter Wunsch es wäre, „einmal richtig essen zu können“.

Und dann kann man das, was Wolfgang ganz zum Schluss erzählt, noch besser verstehen. Auch er musste nach seiner Operation – wie alle hier – lernen zu kauen, zu schlucken, das zu essen was ging. Und dann kam der Tag, als er Sahnetorte bestellen konnte. „Ein ganzes Stück süße, weiche Sahnetorte. Das war wie drei Geburtstage auf einmal.“

Autorin: Katja Brinkhoff, Journalistin 

 

Ergänzungen aus der Selbsthilfegruppe zur Frage der medizinischen Nachsorge:

Dank dem Fortschritt und den Möglichkeiten der Medizin vollbringen heute hochspezialisierte Mediziner u. a. z.B. durch Transplantationen – wahre Wunder der Operationstechnik, ohne die noch vor 10-20 Jahren vielen Betroffenen keine Hilfe geboten werden konnte.

Von solche Spezialisten sollte man aber verständlicherweise nicht auch noch eine breite Nachsorge Behandlung erwarten, also z. B. wie kommt der Patient nach der Operation mit den Bestrahlungsschäden, der Nahrungsaufnahme, der Sprache, dem Kräfteverlust u. ä. zurecht. Andererseits sind aber auch Allgemein-Mediziner mit diesem Spezialgebiet häufig überfordert. Hier bieten die Selbsthilfe–Gruppen eine wichtige Ergänzung – sprechen dort doch Menschen miteinander über Probleme, die sie aus eigenem Erleben kennen und tauschen ihre Versuche und Erfahrungen zur Linderung oder Abhilfe aus.

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